Mädchen

„Der LuiRat ist Ein Gremium aus Mädchen, jungen Frauen, pädagogischen Fachkräften und der Leiterin des Antonia-Werr-Zentrums. Partizipation ist ein zentraler und für alle Betreuten und Mitarbeiter/innen wichtiger Baustein unseres Konzeptes. Der Rat beschäftigt sich mit den Anliegen und Wünschen der einzelnen Gruppenmitglieder und ist beteiligt an der Konzeptentwicklung und Ausgestaltung unserer Hilfen. Jede Gruppe hat eine Vertreterin gewählt, welche sich einbringt und einen direkten Einfluss auf Entscheidungsprozesse hat“

Quelle: Buch „Hey, ich bin normal!“ von Wilma Weiß und Anja Sauerer

 

So arbeiten wir im LuiRat

„Anita, eine Heimrätin beschreibt die Arbeit so:

„Mitwirkung lohnt sich, Veränderung ist möglich!
Mir ist es nochmal wichtig, hier klar und deutlich zu sagen, dass ihr genauso viel wert seid, wie die Erwachsenen. Ihr alle habt eine Stimme, die wichtig und groß ist. Ihr könnt mit eurer Stimme so vieles verändern. Ihr könnt so viel bewirken, was nicht nur wichtig für euch/dich ist, sondern auch für jeden anderen Jugendlichen. Nutzt diese Chance, denn eure Stimme kann alles verändern. Glaubt an euch und lasst euch von niemandem unterdrücken oder klein reden. Ihr könnt mit eurem Glauben an euch Welten bewegen
und verändern.
Wir haben es z. B. geschafft, faire Handyregelungen für alle Mädchen zu finden und ihnen gemeinsam mit der Leitung ermöglicht, einen „Chill-Raum“ einzurichten, den wir selbst beaufsichtigen. Wir stellen Anträge an die Gruppenleiterinnenrunde, die dort behandelt werden müssen. Wir tragen unsere Argumente vor und konnten schon sehr oft überzeugen oder im Vorbereitungsteam für unser Jubiläum war eine Rätin unter allen Mitarbeitern dabei und hat mit entschieden, wie wir das Jubiläum gestalten wollen und wo unser Rat seinen Platz findet. Die Begrüßung, also die erste Rede vor allen anderen, haben wir gehalten und die Gäste begrüßt. So könnte ich noch von vielen Beispielen erzählen – ihr seht, es lohnt ich, macht Spaß und es ist voll schon, mitzugestalten.“

Ja, so arbeiten wir in unserem Heimrat. Er heißt Lui-Rat. Denn unser Ort heißt St. Ludwig und so haben sich die Mädchen schon vor Jahren gedacht, wir nennen unseren Heimrat Lui-Rat. In unserem Heimrat sind Mädchen aus allen Gruppen, d. h. jeweils eine gewählte Vertreterin, Erzieherinnen, ein Ehrenmitglied und die Leiterin der Einrichtung. Die Mädchen sind bei uns in der Mehrzahl. Sie könnten bei wichtigen Abstimmungen also immer „gewinnen“, die Erwachsenen überstimmen. Ob das schon mal passiert ist? Nein, wir haben immer so gute Lösungen gefunden, dass es nie zu einer „Kampfabstimmung“ kam und wir die Erwachsenen hätten überstimmen müssen. Ihn gibt es jetzt schon seit 2009 und wir haben schon sehr viel erarbeitet, beschlossen, verändert, diskutiert und gute Lösungen für das Zusammenleben aller hier in unserem Zentrum gefunden und auch umgesetzt.

Aussagen unserer Rätinnen über die Arbeit im Lui-Rat:
• Der Lui-Rat hat mich sehr gestärkt.
• Ich hätte nie geglaubt, dass ich vor so vielen Leuten sprechen kann.
• Irgendwie bin ich auch mitfühlender geworden.
• Ich habe gemerkt, es lohnt sich echt, sich einzusetzen und dass man wirklich was erreichen kann.
• Ich bin innerlich stärker und auch ruhiger geworden.
• Es fühlt sich manchmal innerlich sortierter an.
• Plötzlich habe ich mich getraut, meine Meinung zu sagen und niemand war sauer – im Gegenteil, die anderen haben sich dafür interessiert, wie ich das meine und was ich genau dazu denke.
• Nach einer Weile im Lui-Rat habe ich gemerkt, dass man da ja wirklich seine Meinung sagen darf, so die richtige, echte Meinung.
• Ich kann jetzt so manche Regel besser verstehen und auch die Erzieher.
• Manchmal sind die Erzieher in einer Zwickmühle, sollen sie die Privatsphäre schützen oder die Sicherheit, also die Gesundheit in den Vordergrund stellen, weil sie vielleicht vermuten, dass das Mädchen sich vielleicht was antun will. Die müssen dann ganz schön diskutieren.
• Ich kann Probleme und Wunsche besser beschreiben und erklären und finde immer bessere Argumente.
• Ich kann jetzt auch moderieren und auf die Gesprächsregeln aufpassen und ich merke, dass wir dann viel gründlicher sein können und dass das dann eigentlich schneller ist.
• Bei Führungen dabei zu sein, ist voll aufregend, aber total wichtig, weil wir dann auch zeigen können, dass „Heimkinder“ ganz normal sind.

Es ließe sich noch viel mehr dazu erzählen. Wir möchten dir aber noch ein paar wichtige Tipps geben. Wir haben uns z. B. auch eigene Regeln aufgestellt. Sie heißen Leitlinien.

Wir haben sehr lange an den Leitlinien, unseren Regeln, gearbeitet und erst als alle zufrieden und einverstanden waren haben wir sie eingeführt. Ab und zu prüfen wir und ergänzen sie. Das ist ein richtiger Regelkatalog für die Durchführung eines Heimrates. Wir beschreiben darin unsere Aufgaben, die Gesprächsregeln, der Umgang mit dem Protokoll und der Dokumentation, Neuwahlen, Ausstiegskriterien, Ausfall bei Krankheit, Ausschlusskriterien, Wiederaufnahmekriterien, Vollversammlung, Abstimmungsverfahren, stiller Beisitz, Öffentlichkeitsarbeit, welche Fähigkeiten wir brauchen, wie wir uns anderen gegenüber verhalten wollen und vieles mehr. Diese Leitlinien helfen uns, neue Mädchen einzuführen, aber auch immer wieder an unsere gemeinsamen Absichten und Motivationen für das Ganze erinnert zu werden.

„Partizipation wird als zentrales Element einer modernen Jugendhilfe im Antonia-Werr-Zentrum verstanden. Die Mädchen und jungen Frauen werden in demokratische Regeln eingeführt und können diese im Rahmen des Lui-Rates einüben.“

Folgende Aufgaben sind von uns als Vertreterin auszuführen; so steht es im
Zertifikat:
a) „regelmäßige Teilnahme an den Lui-Rat-Sitzungen
b) Einbringen der Wünsche und Bedürfnisse der Mädchen und jungen Frauen die sie vertreten
c) Mitverantwortung für das Zusammenleben in der Einrichtung
d) Mitsprache und Mitwirkung bei der Entscheidungsfindung
e) Mitsprache bei der Einführung pädagogischer Konzepte
f) Beachtung der vereinbarten Gesprächsregeln
g) Übernahme der Moderation und Protokollführung der Sitzungen im Wechsel
h) Anhörung und Befragung
i) Öffentlichkeitsarbeit“
(Zertifikat der Antonia-Werr-Zentrum GmbH für die Mitarbeit
im Beteiligungsgremium Lui-Rat)

Manchmal bittet uns auch die Leiterin der Einrichtung um Rat. Wir wollen auch das Leitungsteam unterstützen, wenn es darum geht, große Probleme zu lösen. Wenn es z. B. Mobbing gibt, dann überlegen wir zusammen, was jede/r an seiner Stelle tun kann. Also, der Lui-Rat bringt nicht nur Anliegen und Wünsche ein oder diskutiert über Unzufriedenheiten, nein, wir schauen auch aufs Ganze und schauen, wie wir hier Bedingungen schaffen und bewahren können, die allen helfen und auch denen, die noch kommen werden.“

Quelle: Buch „Hey, ich bin normal!“ von Wilma Weiß und Anja Sauerer

Was sind Lui-Rat-Workshops?

Seit einigen Jahren werden alle gewählten Lui-Rätinnen, also je eine Vertreterin pro Gruppe, zu vier Workshops pro Schuljahr eingeladen. Sie werden hierfür den ganzen Tag von der Schule oder Ausbildung befreit, um sich ganz auf die Inhalte konzentrieren zu können.

Wir sprechen in den Workshops unter anderem
• darüber, wie unser Gehirn funktioniert, wie es sich nach einem Trauma verändert,und
• darüber, warum das Gehirn sich manchmal ausschaltet, warum sich manche Mädchen selbst verletzen und was man dagegen tun kann,
• über Beziehungserfahrungen aus der Vergangenheit und wie sie sich auf heutige Beziehungen übertragen und diese schwieriger machen und
• über frühe Bindungen und wie sie unser Jetzt beeinflussen.

Die Mädchen, die häufig aus herausfordernden Lebensumständen kommen, sind hier meist die Expertinnen und können sich gegenseitig viel erklären und sich gegenseitig gut unterstützen. Das ganze findet in einer sehr vertrauten Atmosphären statt, sodass jede sich öffnen kann und auf das Mitgefühl und Verständnis der anderen Mädchen zählen kann.
Natürlich kommt bei all den schweren Themen auch Spaß und Lachen nicht zu kurz, es werden immer wieder lustige Spiele gemacht (z. B. „Das kotzende Känguru“ oder das „Pferderennen“) und es gibt immer leckeres Essen und Kaba in den Pausen.
Nach den Workshops können die Lui-Rätinnen gemeinsam mit einer Erzieherin die Inhalte im Gruppenabend ihrer Gruppe weitererzählen, sodass alle in der Gruppe auf dem gleichen Stand sind.

Text: Barbara Winterstein
Fotos: Lena Kahl

Beschwerdemanagement

Beschwerden erlaubt – Anregungen erwünscht! Der LuiRat entwickelt das Beschwerdemanagement

Die Beteiligung unserer Mädchen und jungen Frauen basiert auf der Anerkennung ihrer Expertenschaft und der Wertschätzung ihrer bisherigen Lebensleistung. Sie müssen das Recht haben an der Gestaltung ihres Lebens teilzuhaben und wirksamen Einfluss auf Entscheidungen betreffend
ihrer Angelegenheiten zu nehmen, d. h. das Ernstnehmen ihrer Anregungen, Sorgen, Beschwerden,
Einsprüche und Ideen zur Verbesserung ihrer Entwicklung.
Mit dem Bundeskinderschutzgesetz betont der Gesetzgeber den Schutz und die Rechte von Kindern und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe. Im Rahmen einer Heimunterbringung, was für viele ein drastischer Eingriff in ihr bisheriges Leben darstellt, ist es unbedingt notwendig, Zugänge zur selbstbestimmten Teilhabe transparent zu machen, diese niederschwellig zu ermöglichen und die Expertenschaft und Meinung der Beteiligten ernst zu nehmen. Kinder und auch deren Eltern haben oft das Gefühl, dass trotz aller Beteiligung dennoch über sie entschieden wurde. Somit ist es
in diesem Kontext besonders wichtig sehr sensibel damit umzugehen und konträre Meinungen, Anregungen und Beschwerden sehr ernst zu nehmen. Nur wer seine Rechte kennt kann sie auch entsprechend einfordern. Von daher ist uns Aufklärung und Transparenz ein wichtiges Anliegen.
Eine konzeptionelle Verankerung von Partizipation ist selbstverständlich, denn Beschwerdemanagement ist ohne Partizipation nicht möglich. Zur Beschwerde gehört das Wissen über Rechte und das Schaffen von Räumen der wahrhaften Beteiligung.

Im Januar 2019 wurde nun unser Beschwerdemanagement für die uns Anvertrauten in unserem Qualitätsmanagementsystem implementiert und im Frühjahr bereits auditiert. Sie selbst haben es in einem behutsamen Prozess entwickelt. Viel Abwägungen wurden getroffen, verschiedene Szenarien durchdacht und so wurde großer Wert auf Sicherstellung des Schutzes, die Anerkennung, Wertschätzung und Einhaltung der Rechte gelegt. Ein gelungenes Beschwerdemanagement verbessert die Qualität, sorgt für Prävention, macht Defizite und Entwicklungspotentiale der Einrichtung sichtbar. So können wir uns stetig verbessern und den Schutz der uns anvertrauten Mädchen und jungen Frauen soweit als möglich sicherstellen.
Bei unserem Beschwerdeverfahren wurde auf niederschwellige Zugänge, klare Abläufe und eine sensible Einführung geachtet. So soll es möglich sein, sich zeitnah, vertraulich, unbürokratisch und
ohne Hürden zu beschweren. Ein von den LuiRätinnen gewähltes Beschwerdeteam (gemischt aus
Mitarbeiter*innen und Mädchen) nimmt sich dann der Beschwerde an und sorgt für schnellstmögliche Lösung, Begleitung und entsprechender Bearbeitung der Beschwerde.

Partizipation heißt für uns: eine fördernde und wohlwollende Begegnung auf Augenhöhe. Wir treten den Kindern und Jugendlichen in einer Haltung gegenüber, die Transparenz und Beteiligung ermöglicht. Wir schaffen heilsame Entwicklungs- und Erfahrungsräume auf allen Ebenen.

Text: Anja Sauerer
Fotos: Antonia-Werr-Zentrum GmbH